Trotz Vorfahrtrechts – Radfahrer trägt in großem Maße Mitschuld
Ein vorfahrtsberechtigter Verkehrsteilnehmer muss im Bereich von unübersichtlichen Einmündungen damit rechnen, dass ein Wartepflichtiger dazu gezwungen sein kann, sich für freie Sicht in die Vorfahrtsstraße „hineinzutasten“. Er hat daher seine Fahrweise darauf einzustellen. So entschied das Landgericht Lüneburg in einem Urteil vom 23. März 2023 (6 O 68/22).
Der Kläger befuhr Mitte Dezember 2021 mit seinem E-Bike einen gemeinsamen Fuß- und Radweg einer Kreisstraße. In Höhe einer Einmündung fuhr er seitlich in die Front des Personenkraftwagens des Beklagten.
Dieser hatte sich langsam in Richtung der Vorfahrtsstraße vorgetastet. Dabei war er mit den vorderen Rädern minimal über die Haltelinie gefahren.
Schadenersatz und Schmerzensgeld gefordert
Bei dem Unfall war der Fahrradfahrer erheblich verletzt worden. Außerdem hatte sein E-Bike einen Totalschaden erlitten. Er war der Ansicht, dass der Autofahrer seine Vorfahrt verletzt habe. Daher forderte er von ihm beziehungsweise dessen Kfz-Haftpflichtversicherer, Schadenersatz sowie ein Schmerzensgeld zu zahlen.
Zu Unrecht, befand das Lüneburger Landgericht. Es wies die Klage des Bikers als unbegründet zurück.
Radfahrer hat auf sein Vorfahrtsrecht vertraut
Nach der Beweisaufnahme war das Gericht überzeugt, dass der Kläger in so großem Maße für den Unfall verantwortlich war, dass dahinter die Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Beklagten vollständig zurücktritt. Die Unfallstelle sei wegen eines hohen Zauns nämlich so schwer einsehbar gewesen, dass der Autofahrer den Radfahrer erst nach Überfahren der Haltelinie habe wahrnehmen können.
Selbst der Radler habe eingeräumt, dass er das gegnerische Auto vor dem Unfall nicht habe sehen können. Dennoch hatte er auf sein Vorfahrtsrecht vertraut und die Geschwindigkeit seines Fahrrades vor der Einmündung nachweislich nicht reduziert.
Vom berechtigten Vertrauen eines Wartepflichtigen
„An unübersichtlichen Stellen wie dem Einmündungsbereich, in dem sich der Unfall ereignete, hat gemäß § 1 StVO der Vorfahrtberechtigte aber seine Geschwindigkeit der eigenen Sicht anzupassen und so zu bemessen, dass er einen Zusammenstoß mit einem bereits vor seinem Sichtbarwerden aus der nichtbevorrechtigten Straße auf die Einmündung gelangten Fahrzeug durch Ausweichen oder Bremsen vermeiden kann“, so das Gericht.
Ein Vorfahrtsberechtigter müsse damit rechnen, dass ein Wartepflichtiger gezwungen sein könnte, sich zur Erlangung freier Sicht in die Vorfahrtsstraße „hineinzutasten“. Darauf dürfe ein Wartepflichtige auch vertrauen.
Ausreichend Platz, um vorbeizufahren
Nach Ansicht der Richter gab es aber noch einen weiteren Grund, die Klage abzuweisen. Der Kläger habe den Radweg entgegen seinen Verpflichtungen im Bereich der Einmündung nämlich offenkundig ein wenig verlassen. Nur so sei es zu erklären, dass er in den seitlichen Frontbereich des Pkw gefahren sei.
Nach dem Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen habe zwar die „Schnauze“ des Kfz des Beklagten leicht über die Haltelinie geragt. Der davor liegende Fuß- und Radweg sei dadurch aber nicht blockiert worden.
Die vordere Stoßstange des Autos sei zum Zeitpunkt des Unfalls vielmehr noch etwa 50 Zentimeter von der äußeren Markierung des Radwegs entfernt gewesen. Der Kläger habe daher ausreichend Platz gehabt, um mit seinem Fahrrad vor dem Auto vorbeizufahren, um so eine Kollision zu verhindern.
Quelle : Versicherungsjournal 09.11.2023
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