Beinahe-Kollision mit Reh grob fahrlässig herbeigeführt ?
Einem Fahrzeugführer, der reflexartig einem Reh ausweicht, kann in der Regel nicht vorgeworfen werden, grob fahrlässig gehandelt zu haben, wenn dabei das Fahrzeug beschädigt wird. Das geht aus einem Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 7. Oktober 2020 hervor (20 U 128/20).
Nach einem Bericht des Deutschen Anwaltvereins war eine schwangere Frau mit dem Personenkraftwagen ihres Lebensgefährten unterwegs, als plötzlich ein Reh über die Fahrbahn lief. Um eine Kollision mit dem Tier zu vermeiden, wich sie ihm aus.
Obwohl die Geschwindigkeit des Autos gerade mal 30 Kilometer pro Stunde betrug, gelang es der Fahrerin nicht, es unter Kontrolle zu bringen. Der Pkw kam von der Straße ab und wurde beschädigt.
Grob fahrlässiges Ausweichmanöver?
Es entstanden Reparaturkosten in Höhe von rund 10.300 Euro, die der Fahrzeughalter sich von seinem Teilkaskoversicherer erstatten lassen wollte. Das lehnte der Versicherer aber ab. Seine Begründung: Das Ausweichmanöver sei angesichts der vergleichsweise niedrigen Geschwindigkeit grob fahrlässig gewesen.
Im Übrigen sei es offensichtlich, dass die Fahrzeugführerin falsche Angaben zu der Entfernung zum Reh sowie zu der Geschwindigkeit gemacht habe.
Glaubwürdige Aussage der Fahrerin
Dieser Argumentation wollten sich weder das in erster Instanz mit dem Fall befasste Landgericht Essen, noch das von dem Versicherer in Berufung angerufene Hammer Oberlandesgericht anschließen. Beide Gerichte hielten die Klage des Versicherten in vollem Umfang für gerechtfertigt.
Die Richter waren überzeugt, dass die als Zeugin vernommene Autofahrerin den Unfallhergang so geschildert hat, wie sie ihn wahrgenommen hatte. Die Tatsache, dass sie als Lebensgefährtin des Klägers ein eigenes Interesse an einem positiven Ausgang des Rechtsstreits hatte, mache sie für sich genommen nicht unglaubwürdig.
Angaben der Zeugin grobe Schätzungen
Der Versicherer hatte argumentiert, dass die Zeugin bei einem behaupteten Abstand von zwei Metern zum Tier und einer Geschwindigkeit von etwa 30 Kilometer pro Stunde gar keine Zeit gehabt habe, um mit einem „Verreißen“ des Lenkrads zu reagieren. Dies sprach nach Ansicht der Richter nicht gegen ihre Glaubwürdigkeit. Es liege nämlich auf der Hand, dass es sich bei diesen Angaben um grobe Schätzungen gehandelt habe.
„Das gilt nicht nur, weil ganz allgemein Angaben von Zeugen zu Entfernungen und Geschwindigkeiten häufig fehlerbehaftet sind. Vielmehr kommt im hier zu beurteilenden Fall hinzu, dass sich das Geschehen für die Zeugin in Sekundenbruchteilen ereignete, diese also hinsichtlich der Entfernung des Rehs nur ganz flüchtige Wahrnehmungen machen konnte.“
Die Richter hielten die Reaktion der Frau auch für angebracht. Denn geboten seien solche Maßnahmen, die ein Versicherter oder ein Dritter aus nachträglicher Sicht ohne grobe fahrlässigkeit als zweckdienlich ansehen durfte, um den Eintritt des Versicherungsfalls zu vermeiden.
Keine grobe Fahrlässigkeit
Nach Ansicht des Berufungsgerichts durfte die Fahrzeugführerin ihr Ausweichmanöver folglich als zweckdienlich ansehen, um eine Kollision mit dem Reh zu vermeiden, ohne dass man ihr deswegen ein grob fahrlässiges Verhalten vorwerfen könne. Grobe Fahrlässigkeit hätte ihr allenfalls dann vorgehalten werden können, wenn sie einem Kleintier ausgewichen wäre.
Es müsse im Übrigen berücksichtigt werden, dass wegen der Schwangerschaft der Zeugin bei einem Frontalzusammenprall durch die angelegten Sicherheitsgurte womöglich Schäden an dem ungeborenen Kind zu befürchten waren. Ihr könne daher auch aus diesem Grund nicht vorgeworfen werden, grob fahrlässig gehandelt zu haben, als sie dem Tier ausgewichen war.
Quelle : Versicherungsjournal 08.04.2022
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