Wenn ein betrunkener Fußgänger plötzlich auf die Straße läuft
Wer als Autofahrer mit einer zu Fuß gehenden älteren Person, einem Kind oder einem Hilfsbedürftigen kollidiert, muss in den meisten Fällen haften – auch aus der Betriebsgefahr des Autos. Dies gilt jedoch nicht für einen Pkw-Lenker, der die Trunkenheit einer Fußgängerin nicht erkennen konnte. Das belegt ein Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm.
Eine alkoholisierte Frau überquerte innerorts an einer dafür nicht vorgesehenen Stelle eine belebte Straße, ohne auf den Verkehr zu achten. Dabei wurde sie seitlich von einem Auto gestreift und verletzt.
Die Krankenkasse, bei der die Verletzte Mitglied ist, übernahm zuerst die Behandlungskosten und forderte dann mittels einer Gerichtsklage den Fahrer beziehungsweise dessen Kfz-Haftpflichtversicherung auf, sich zur Hälfte an den Kosten zu beteiligen. Die gesetzliche Versicherung berief sich dabei darauf, dass den Kfz-Fahrer eine Mitschuld trifft.
Hilfsbedürftig …
Nach Ansicht der Krankenkasse hat der Kfz-Fahrer gegen § 3 Absatz 2a StVO verstoßen. Denn er habe nicht genügend Rücksicht auf die Verkehrsteilnehmerin genommen, die aufgrund ihres Alkoholkonsums als hilfsbedürftig einzustufen gewesen sei.
Im genannten Paragrafen heißt es unter anderem: „Wer ein Fahrzeug führt, muss sich gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft, so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.“
Laut Kläger habe sich die Fußgängerin auffällig bewegt und sei deshalb als gefährdete Verkehrsteilnehmerin erkennbar gewesen.
… durch Trunkenheit …
Doch weder die Vorinstanz noch das im Rahmen einer Berufung angerufene Oberlandesgericht (OLG) Hamm teilten diese Rechtsauffassung. Nach dem Beschluss des OLG Hamm vom 19. August 2024 (7 U 58/23) hat die Fußgängerin durch ihr grob fahrlässiges Verhalten den Unfall alleine verursacht – und zwar in einem Ausmaß, das die Betriebsgefahr des Fahrzeugs vollständig zurücktreten lässt.
Die Frau habe gegen § 25 Absatz 3 StVO verstoßen. Dieser schreibt unter anderem vor, dass ein Fußgänger nur unter Beachtung des Fahrzeugverkehrs eine Straße überqueren darf. Laut Gericht war das Fahrzeug des Beklagten für sie ohne Weiteres erkennbar – dennoch hat sie die Fahrbahn betreten.
Ein Sachverständiger stellte zudem fest, dass der Fahrer weder zu schnell gefahren sei noch habe es Hinweise auf eine Reaktionsverzögerung gegeben. Für die Haftung des Kfz-Fahrers war eine zentrale rechtliche Frage, inwieweit er hätte erkennen müssen, dass es sich bei der Frau um eine hilfsbedürftige Person im Sinne von § 3 Absatz 2a StVO handelte, die besonderer Rücksichtnahme bedarf.
Eine betrunkene Person ist zwar laut gängiger Rechtsprechung hilfsbedürftig. Denn es gibt hierbei keinen Unterschied, inwieweit „die mangelnde Verkehrstüchtigkeit auf Jugend, Alter oder einem besonderen körperlichen beziehungsweise geistigen Zustand beruht, ob dieser dauerhaft oder nur vorübergehend ist und ob der Betroffene verschuldet oder unverschuldet in diesen Zustand geraten ist“, wie dem Urteil zu entnehmen ist.
… war nicht erkennbar
Das Gericht sah es jedoch nicht als erwiesen an, dass der Autofahrer den alkoholisierten Zustand der Fußgängerin hätte erkennen müssen. Ein Sachverständiger erläuterte dazu, dass der unsichere Gang der Frau – ein mögliches Anzeichen für eine Hilfsbedürftigkeit infolge Alkoholisierung – vom Blickwinkel des Kfz-Fahrer aus, wenn überhaupt, nur schwer erkennbar gewesen wäre.
Aus Sicht des Gerichts hatte der Autofahrer somit keinerlei Anlass, besonders vorsichtig oder bremsbereit zu sein. Seine gefahrene Geschwindigkeit von 45 Stundenkilometern lag unter dem innerorts erlaubten Maximum, und es gab keine erschwerenden Bedingungen wie Glätte oder schlechte Sicht.
Ein Fahrfehler ist laut Gericht daher nicht festzustellen, und es hat auch keine Anzeichen für eine unmittelbar drohende Gefahr gegeben, bevor die Frau plötzlich auf die Fahrbahn trat. Im Urteil wird zudem betont: „Das ausreichende Beobachten des Straßenverkehrs vor einer Fahrbahnquerung gehört zu den elementarsten Verhaltenspflichten eines Fußgängers.“
Wann die Betriebsgefahr ausnahmsweise nicht zur Haftung führt
Weiter führte das OLG aus, dass die reine Betriebsgefahr des Fahrzeugs der nach § 9 StVG und § 254 BGB vorzunehmenden Abwägung nicht durch ein Verschulden des beklagten Kfz-Fahrers (§ 276 Absatz 2 BGB) erhöht ist. Daher sei in diesem Fall „ausnahmsweise die Annahme eines vollständigen Haftungsausschlusses gerechtfertigt“.
Die Richter betonten: „Wie dargelegt belastet die Beklagten [Kfz-Haftpflichtversicherung und Kfz-Fahrer] lediglich die einfache Betriebsgefahr des Fahrzeugs, weil ein gefahrerhöhender Fahrfehler aufseiten des Beklagten [Kfz-Fahrer] nicht festgestellt werden kann.
Fußgängerin hat einen groben Verkehrsverstoß begangen
Demgegenüber hat die Verletzte mit dem achtlosen Überqueren der Fahrbahn einer hinlänglich übersichtlichen Straße mit nicht unerheblichem Verkehrsaufkommen einen objektiv groben Verkehrsverstoß begangen.“
In dem Fall überwiegt laut OLG daher das Verschulden der Verletzten die von dem Kfz ausgehende Betriebsgefahr in einem Maße, welches den aus § 7 StVG herzuleitenden eigenen Haftungsanteil der Beklagten, nämlich Kfz-Halter und Kfz-Haftpflichtversicherung, völlig zurücktreten lässt.
Laut dem Beschluss beabsichtigte das OLG, die Berufung zurückzuweisen. Der Kläger hatte nach Zustellung der Entscheidung drei Wochen Zeit für eine Stellungnahme. Er zog die Berufung zurück.
Marion Zwick
Quelle : Versicherungsjournal 15.04.2025
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